Diese Kurzgeschichte ist im Rahmen des KfJ-Seminars “Kurzgeschichten für Journalisten” mit der wunderbaren Amelie Gräf entstanden. Ein bisschen stolz bin ich schon.

Auf dem Foto sind zwar nicht Alois’ Beine und das Sprungbrett ist auch nicht drei, sondern höchstens einen Meter hoch. Dieses Bild von meinem Sommerurlaub 2014 hat mich unterbewusst zur Geschichte inspiriert. Da bin ich mir ziemlich sicher. Und das ist Inspirationsquelle Nummer zwei: Tollpatsch-Pinguin mit Höhenangst.
Meine Geschichte heißt „Für Elfriede“ und geht so:
17 Sprossen hat die Leiter. Alois steht am unteren Ende und blickt hinauf. Mit beiden Händen umklammert er das Geländer links und rechts von ihm. Kurzes Innehalten. Er setzt das linke Bein auf die erste Stufe, das rechte folgt. Kurze Pause, weiter. Links, rechts, Pause. Links, rechts, Pause. Er kämpft sich Sprosse für Sprosse nach oben. Kein Zurückblicken, kein Stehenbleiben. Immer im Takt: links, rechts, Pause. Links, rechts, Pause. Elf Stufen sind geschafft. Die schwimmbadtypische Mischung aus Platschen, Kiosk, Kindern, die ihre Eltern suchen – in weiter Ferne. Alois sieht nur: die nächste Sprosse. Links, rechts, Pause. Schweißperlen auf Alois’ Stirn, Pudding in den Knien. Endlich geschafft, Alois hat die Plattform erreicht. Er geht einen Schritt zur Seite, das Geländer stets zur Hand – und bemerkt erst jetzt die beiden Jungen hinter sich, die ihn überholen. Nummer eins hüpft auf das Sprungbrett, nimmt zwei, drei Schritte Anlauf, federt einige Male gekonnt, springt ab und stürzt sich akrobatisch ins Nass. Platsch. Nummer zwei folgt in gleicher Manier. Platsch. Alois schaut zu. Er wagt einen Blick hinab. Er erkennt ein Grüppchen aus Liegestühlen, ein weiteres aus Handtüchern – und dazwischen Wiese. Am Kiosk ist kaum etwas los, im Sportbecken üben ältere Damen ihre Fitness – das sommerliche Pendant zum Kaffeeklatsch. Elfriede ist auch darunter. Er winkt, sie winkt zurück. Alois’ Herz tanzt.
Es ist Spätsommer, die Sonne blitzt immer wieder zwischen dem Wolkenschleier hervor. Alois setzt einen Fuß auf das Sprungbrett. Die Oberfläche fühlt sich an wie Schmirgelpapier Stärke 100. Jetzt muss er das Geländer loslassen, um freihändig auf dem Sprungbrett zu stehen. Sein Herz tanzt Polka. Die vorher so klar erkennbare Umgebung verschwimmt zu einem Gemisch aus Grün-Blau. Nur das Brett unter seinen Füßen erkennt er klar. Alois atmet tief ein und bewegt sich nach vorn. Links, rechts. Links, rechts. Stopp. Alois senkt seinen Kopf, blickt an seiner französisch-gestreifte Badehose vorbei, konzentriert sich auf die Haare auf seinen Zehen, die sich am Schmirgelpapier 100 festkrallen. Darunter: Chlorwasser, eingehüllt in blaue Fliesen. Dazwischen: Drei lange Meter, die ihn auslachen.
Noch einmal wandert Alois’ Blick gen Sportbecken. Er sieht die ausgeschnittenen Rücken der Badeanzüge und drei Schwimmnudeln. Blick zurück zu den Zehen, langsames Zurückbewegen. Er steigt vom Sprungbrett auf die Plattform, greift das Geländer erneut. Es fühlt sich kühl an. Die drei Damen im Sportbecken haben das Ende der Bahn erreicht, drehen um, scheinen sich prächtig zu unterhalten. Alois winkt, sie winken zurück. Alois erfasst ein Sturm von Mut, er lässt das Geländer los. Er steigt auf das Sprungbrett und zittert bis zum Ende. Er schließt seine Augen. „Jetzt oder nie“, denkt er. Alois macht einen weiteren Schritt – ins Leere – und fällt. Platsch. Kein Abspringen, kein Nasezuhalten, kein Salto. Nur Stolz. Unter Wasser bewegt er sich geschmeidig wie ein junger Otter. Freiheit. Kräftige Armzüge bringen ihn an die Oberfläche. Den Mund aufgerissen saugt er die Luft ein. Er dreht sich in Richtung Sportbecken. Elfriede wühlt in ihrer Badetasche.